Auf dem Leeway

Im neulich erschienen Artikel «Safety and autonomy: A contradiction forever? (Safety Science
127 (2020) 104709)» von Gudela Grote hat mich die Grafik beschäftigt. Frau Grote untersucht
ein Spannungsfeld. In diesem Falle ist es: Autonomie und Sicherheit.

Welcher Einfluss ist durch Unsicherheit gegeben?

Grote


Die Grafik ist mir aufgefallen, weil sie eine Kausalkette darstellt. Sind die Kausalitäten tatsächlich so zielgerichtet wie das Bild suggeriert? Retrospektiv konstruieren wir Kausalketten. Prospektiv fantasieren wir Kausalketten. Beide Arten haben Nebeneffekte. Zumindest wenn es stimmt, dass wenn sich in einem System ein Faktor verändert, sich das ganze System verändert. So gesehen
ist die Grafik falsch, weil sie unidirektional ist(1). Warum ist eine Grafik wichtig? Wir wissen ja, dass Modelle immer nur eine Beschreibung eines Topos sind. Es kommt dazu, was Paul Celan in einem seiner Gedichte in Atemkristalle(2) schreibt:

«Die Zahlen, im Bund
mit der Bilder Verhängnis
und Gegen-
verhängnis.»

Zahlen sind immer historisch, auch wenn es Prognosen sind. Viele Unternehmungen sind in ihren Aktionen sehr Zahlengetrieben. Diese Zahlen wirken wie Bilder, sie erzeugen eine Idee davon,
was geschieht. Allerdings haben wir gelernt die Zahlen zu interpretieren. Nur manchmal stimmt die gewohnte Interpretation nicht, weil der Kontext nicht mehr derselbe ist. Und manchmal interpretieren wir den Kontext falsch, weil wir vergessen, ihn neu zu interpretieren. So etwa könnte ein Manager diese Zeilen von Celan für seine Arbeit interpretieren.

Was bedeutet das Bild, die Grafik, wenn wir dieses Medium «nicht als Mittel, sondern als Mitte und Mittler bestimmen? Die Antwort darauf wird durch das »Botenmodell(3)« gegeben, das Übertragung als ein kulturphilosophisches Schlüsselkonzept ausweist. Der Bote erscheint in diesem Zusammenhang als die Figur eines Dritten, der zwischen heterogenen Welten platziert ist und damit Kommunikation und Austausch ermöglicht. Die kulturstiftende Leistung des Übertragens wird am Beispiel der imaginären Figur des Engels, der Krankheitsübertragung durch Viren, der Eigentumsübertragung durch Geld, der Sprachübertragung in der Übersetzung, der Gefühlsübertragung in der Psychoanalyse und schließlich der Übertragung von Wahrnehmung und Wissen durch Zeugen analysiert.»(4) 

In ihrem Artikel befürchtet Frau Grote, dass Mitarbeitende gerne den Leeway benutzen, wenn die Mitarbeitenden mehr Autonomie und weniger Hierarchie erleben. In den Sicherheitswissenschaften wird für Leeway(5) oft auch der Begriff «short cut» benutzt. Historisch gesehen, ist das eine durchaus berechtigte Furcht. Allerdings stammt diese Erfahrung aus der Zeit von «kommandieren, kontrollieren. korrigieren.» Heute sollten Mitarbeitende aus anderen Motiven in einer Unternehmung tätig sein. Bei gewissen Anstellungen oder Aufträgen habe ich mich immer wieder gefragt, warum ich überhaupt als Spezialist beigezogen werde, da der Chef, der Auftraggeber schon alles besser wusste. Ich will damit sagen, wenn die Unternehmung dazu kommt, alle ihre Sachverständigen in einen Dialog zu bringen um anzustehende Fragen zu erörtern, den Kontext herzustellen und Lösungen zu suchen, dann erübrigt sich die Furcht vor dem Leeway. Und nebenbei, vielleicht macht der Leeway sogar manchmal Sinn.

Man darf auch die Frage stellen, ob «Sicherheit und Autonomie» das richtige Spannungsfeld sind. Nach meiner Erfahrung orientieren sich eher unsichere Menschen an Autoritäten, während selbstbewusste, autonome Menschen sich sicher in ihrem Umfeld bewegen. Nach Luhmann müssen Systeme Sinn generieren. Wenn ein Sinn gegeben ist, kann eine Strategie, eine Taktik gewählt werden um diesen Sinn zu unterstützen. So gesehen, ist die Aufgabe der Führenden, den Mitarbeitenden in der Sinnhaftigkeit des Tuns zu unterstützen. Nietzsche schreibt: «Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit(6).» Wenn wir rechtschaffen miteinander umgehen, müsste die Compliance klappen.

Strategien und Taktiken sollten das ganze System einbeziehen. Das eigene System und das äussere System. In jedem Unternehmen findet ein dauerhafter Prozess der Selbstauslegung statt. Veränderungsprozesse werfen das Problem auf, wonach richtet man sich aus – an den Kennzahlen? am Wettbewerb? an einer Perspektive, die man vom eigenen Unternehmen hat? Nie geht es nur allein um das, was sich operativ handhaben lässt. Sobald eine Marke, ein Produkt gestärkt oder neu bestimmt werden muss, stellt sich die Frage nach der Unternehmensidentität. Fragen werden medial gestellt.

Ein interessantes Beispiel kann die Normarbeit, die im Rahmen der Erarbeitung von Europäischen Normen geleistet wird, geben. In verschiedenen Schritten werden Normen erarbeitet und weiterentwickelt, bis ein Konsens besteht, dass damit eine gute Grundlage, der Standes der Technik vorliegt und die notwendige Sicherheit gewährleistet ist. In einem dieser Schritte kann während zweier Monate jede Person zu dem Entwurf Stellung beziehen(7).  

Gerne begleite ich sie, ihre Unternehmung, bei der Sinnstiftung, besonders aus dem Blickwickel des Risikomanagements. Nehmen Sie Kontakt auf
E-Mailadresse.



(1) Insgesamt ist der Artikel von Frau Grote sehr differenziert. Die Grafik spiegelt das leider nicht.

(2) Paul Celan, Neue kommentierte Gesamtausgabe, Seite 180, Suhrkamp 2018
 
(3) Siehe dazu auch mein Vortrag bei der Schweizerischen Gesellschaft für Arbeitshygiene : «Ein Kontext, die Sprache & das Gespräch» unter Ressourcen

(4) https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/sfb-kulturen-des-performativen/publikationen/kraemer_medium-bote-uebertragung/index.html

(5) leeway (n.): In nautical terminology, leeway is the sideways drift of a ship to leeward (away from wind). From Old English hleo (shelter) + way. Earliest documented use: 1669. http://wordsmith.org/words/leeway.html also lee-way, 1660s, "sideways drift of a ship in her course caused by wind, deviation from true course by drifting to leeward," from lee + way (n.). Applied to loss of progress in general from 1827. Figurative meaning "extra space" is by 1835. https://www.etymonline.com/word/leeway

(6) Nietzsche, Götzendämmerung, Sprüche Pfeile 26 http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/G%C3%B6tzen-D%C3%A4mmerung/Spr%C3%BCche+und+Pfeile/21-30

(7) zum Beispiel hier: www.din.de/de/mitwirken/entwuerfe